Freitag, 7. August 2009

Freitag, der 7. August 2009

17 TAGE EUROPA
(Charly Davidsons Sommerreise 2002)
Mittwch / 2002-08-07
Der vierzehnte Tag / Den Helder | Amsterdam | Uttrecht | Arnheim | BAB 3 Raststätte Hünxe
EIN GANZES MUSEUM FÜR EINEN EINZIGEN MANN

Früh um sechs Uhr geht es los in Den Helder Richtung Amsterdam und „de Nederlande“ sind immer noch so klein, daß man um sieben schon in Amsterdam ist. Zeit genug einen Rastplatz anzusteuern um ein bisschen RADIO 2 zu hören und ein wenig an verschiedenen Texten weiterzuarbeiten. Geregnet hat es in der Nacht, aber das hat mit der Bodenfeuchtigkeit zu tun - oder mit „de Unstabiliait van de Atmosphaere“, wie es der Radiosprecher erklärt - die im Laufe des Tages als Wasserdampf in die Wolken steigt und ab dem späten Nachmittag hier und da als Regen herunterkommt. Aber wenn morgens die Sonne erst einmal aufgegangen ist, dann bleibt es trocken; heute war das genau um 6 Uhr 55 der Fall. Man muss also bloss abwarten können.

Nun fahre ich weiter und höre Don McLean mit seinem Song über „Vincent“, den ich im letzten Jahr ins Deutsche übersetzt habe - frei übersetzt, denn McLean ist hier ein solch beeindruckender Poet, daß der Song nur schwer Eins-zu-Eins zu übersetzen ist. Aber sinngemäß gelingt so etwas dann schon und bei „Sternenklare Nacht“ kommen mir heute immer noch wieder einmal die Tränen.

Punkt neun Uhr wird Amsterdam eingenommen, man ist und bleibt ja schließlich Deutscher. Mein „Hotel Stern“ ist nun in einem Parkhaus verstaut, das sich „EuroParking“ nennt und einen Stundenpreis von 3 Euro hat. Deshalb fahren die Amsterdamer also Fahrrad; schon wieder hat man etwas gelernt. Ich hätte zwar mein Fahrzeug auch vor den Toren der Stadt auf einem Park&Ride-Platz abstellen können, aber dort gilt die alte Autofahrerregel: „Immer nur soviel im Auto zurücklassen, wie der Dieb tragen kann!“.

Die Amsterdamer Grachten sind jetzt schon voller Hausboote und die Straßen voller Menschen, denen man entweder ansieht, daß sie entweder Gast in Amsterdam sind oder Gastgeber. Als ich telefonieren will und mich gerade mit den Tücken eines Kreditkartentelefons befasse, geht eine verwitterte Endfünfzigerin, die so gar nichts mit Colmars Madame Fleury gemeinsam hat, an mir vorbei auf meinen Nachbarn am Nebenapparat zu und bittet diesen um eine kleine Spende. Für sich selbst natürlich. Mein Nachbar, der offenbar die gleichen Probleme mit seinem Telefon hat wie ich, gibt eine klare Antwort: „Piss off!“. Das hört die Dame gar nicht gern und lässt im besten Englisch Schimpfkannonaden auf den Mann los, jedenfalls soweit das ihr fast zahnloser Mund zustande bringt. Es sind Sätze und Worte, die ich hier überhaupt nicht wiedergeben kann, obwohl ich es durchaus könnte. „Hurensohn“, „verfickter Dreckshund“ und natürlich „... Mothafucka ...“ waren da noch hier harmlosesten. Mittlerweile hatte der Mann seine Verbindung zustande gebracht, aber das hilft ihm auch nicht viel, denn die Frau hatte das Szenario einige Minuten akustisch voll im Griff.

Im leichten Nieselregen gehe ich weiter durch Amsterdam, vorbei an Coffeeshops aus denen es nach frischen Kräutern duftet, an Automatenrestaurants, in denen fleißige Asiaten von hinten frische Frühlingsrollen oder Hamburger in die Fächer schieben und in denen man von vorn gegen den Einwurf von Münzen das Essen noch fast warm herausnehmen kann, vorbei an Schoko- und Zuckerwarenläden und an Tabakgeschäften in denen man (so wie ich) eine Kiste mit frisch gedrehten „Wilde Havannas“ erstehen kann. Natürlich treffe ich auch auf Hippies, die sich in den Parks Amsterdams wie vor 30 Jahren fühlen (obwohl die meisten von ihnen vor 30 Jahre noch gar nicht geboren waren). Ich treffe auch auf Straßenbahnen und auf Souvenierläden, die die Amsterdamer Tulpen entweder als Zwiebeln oder als Holzplagiat anbieten.

Und dann habe ich das Ziel meines heutigen Ausfluges erreicht: Ein Museum, ganz alleine nur für einen Mann. Und der hat noch nicht einmal die Photographie erfunden. Ganz im Gegenteil ...

Vincent war sechzehn Jahre alt und ein junger Mann ohne konkrete Ziele, da entschieden seine Eltern für ihn, daß er in der Kunsthandlung seines Onkels einen soliden Beruf erlernen sollte. Doch stellte man jedoch bald fest, daß Vincent keine Freude an der Arbeit in einem engen Bureau hatte, denn immer wieder schlich er sich während der Arbeitszeit ins Freie. Nach vier Jahren wurde er deswegen zuerst in eine Filliale nach London versetzt, machte dort seinen Lehrherren aber keine rechte Freude, also versetzte man ihn 1875 nochmals, diesmal in die Pariser Filliale der Kunsthandlung. In Paris gefiel es Vincent zwar m Grunde, aber eine Arbeit als Kunszhändler war immer noch nichts für ihn. 1876 trennte man sich von ihm, schickte ihn nach Holland zurück und seine Eltern waren ratlos.

Inzwischen arbeitet sein jüngerer Bruder Theodore an seiner Stelle in der Kunsthandlung des Onkels und war dabei wesentlich geschickter als Vincent. Was sollte aus dem bloss werden, der nun schon vierundzwanzig Jahre alt war? Er selbst fand eine Antwort auf diese Frage und entschied sich für eine Ausbildung als Pfarrer. Mit Inbrunst und Leidenschaft widmete er sich fortan der Vorbereitung auf das Theologiestudium. Das allerdings dauerte ihm dann doch zu lange und so wurde Vincent Laienprediger. Im Süden Belgiens erhielt er eine Anstellung als Evangelist, allerdings war „der Holländer“, wie man ihn schnell nannte, selbst der evangelischen der Kirche zu offen, den Bauern zu fromm, sich selbst aber nicht fromm genug. Seine Stelle wurde nicht verlängert.

Wer mit sechsundzwanzig Jahren schon zum zweiten Mal den Weg in den Beruf nicht geschafft hat, der gilt im Holland des 19. Jahrhunderts gescheitert. Da kann er noch so viele versteckte Talente haben. Vincents Eltern geben ihren Sohn auf, nur sein Bruder Theo ist überzeugt davon, daß aus Vincent doch noch etwas werden kann. „Schaut nur“, sagt er „wie gut er malen kann.“ Zum ersten Mal zeigt Vincent darauf seinen Eltern selbst gemalte Bilder - man staunt nicht schlecht. Die nächsten sechs Jahre verbessert er als Maler stetig seine Technik. Doch Vincents Bilder sind sehr dunkel, ganz im Stile der alten holländischen Schule gemalt. Die „Kartoffelesser“ zum Beispiel: hervorragend gemalt, aber - auch Theo sieht es, und das 'Sehen' hat er in der Kunsthandlung des Onkels schließlich gelernt - viel zu dunkel.

Deshalb schlägt Theo vor, der Bruder könne doch einige Zeit nach Paris gehen, wo es ihm ja schon einmal gefallen hat. Dort leben jede Menge Künstler und durch den Kontakt mit ihnen, kann Vincent Förderung und Inspiration erfahren. Das Geld dafür wird in der Folge Theo aufbringen, denn er verdient nicht schlecht und kann immer ein klein wenig davon abgeben. Dafür soll Vincent ihm dann seine Bilder schicken. Der Deal zwischen den Brüdern ist perfekt.

1886, er ist nun bereits dreiunddreißig Jahre alt, zieht Vincent nach Paris und erkennt dort selbst, daß sein Malstil, den er sich mit viel Mühe in Holland erarbeitet hatte, hoffnungslos veraltet ist. So entwickelt er sich in Paris weiter, eignet sich in nur vierundzwanzig Monaten seinen unverwechselbaren Malstil an. UNd Vincent idt zügellos: nun sind seine Bilder außerordentlich farbig und er probiert stets neue Techniken aus. Portraitmaler will er nun werden. Sein bestes Modell ist er selbst. Vincent malt Selbstbildnis um Selbstbildnis, alle unsigniert, denn es sind ja nur Versuche. Aber jedes Bild sieht anders aus. Mal getupft, mal auf Karton, das nächste mit dicker Ölfarbe. Vincent braucht sich nicht zu wundern, daß er keine Kundschaft hat. Wenn jedes Bild anders aussieht, dann kann man nicht sicher sein, wie das bestellte Portrait am Ende sein wird.

Theo könnte die Bilder vielleicht verkaufen, aber er hebt sie alle auf. Und er schickt Vincent weiter Geld. Der wiederum isst kaum, lebt bescheiden und legt alles Geld in Ölfarbe und Leinwand an. In seinem Zimmer riecht es stets nach frischer Farbe. Und das obwohl er am liebsten im Freien malt. Nach zwei Jahren in Paris zieht Vincent um nach Arles in Südfrankreich. Dort will er mit seinen Freunden Toulouse-Lautrec und Gauguin eine Künstlerkolonie errichten. Damit Theo weiss, wie es bei ihm in Arles aussieht, hat er ihm einmal das Schlafzimmer nachgemalt.

Gerne, schreibt Vincent an Theo, würde er bei sich Freunde aufnehmen, aber es würden so wenige kommen. Toulouse-Lautrec steckt meistens in irgend einem Bordell fest und Gauguin käme auch nicht so oft zu Besuch. Aber das hat wiederum einen guten Grund: Vincents Zimmer ist klein und karg, die Wände so leer, dass Vincent Dinge auf Leinwand malt, die er dann an die Wände hängt. Zum Beispiel Sonnenblumen, die mag Paul Gauguin sehr, das weiss Vincent. Also malt er seinem Freund einen Strauß und hängt ihn, die Ölfarben sind noch frisch, auch an die Wand.

Vincents Leben, kaum etwas zu essen kaufen, dafür wie ein Besessener malen, ist seinen Freunden suspekt. Es kommt zum Streit, denn Gauguin muss wieder zurück nach Paris,
Toulouse-Lautrec kommt gar nicht mehr vorbei. Vincent ist einsam. Er schreibt an Theo, daß er sich freuen würde, wenn dieser eine Zeit lang zu ihm nach Arles ziehen könnte. Außerdem schreibt er seinem Bruder, daß er manchmal ohnmächtig wird oder Wahnvorstellungen hat, wahrscheinlich käme das von den Ölfarben. Und daß er sich neulich ein Ohr abgeschnitten habe, das verbundene, bandagierte Haupt hat er aufgemalt, damit Theo es sehen kann.

Der Bruder kommt sofort und ist beunruhigt, als er feststellt, daß Vincent gesundheitlich stark angegriffen ist und oft von psychotischen Anfälle geplagt wird. Er redet lange auf seinen Bruder ein und Vincent erklärt sich freiwillig zu einem einjährigen Aufenthalt im Hospital von St. Rémy bereit. Die Bedigung: Er darf dort malen! - Der Leiter des Hospitals stimmt zu.

Kurz bevor er sich ins Hospital begibt, besucht er noch einmal die Gegend um Arles, prägt sich alles ein, was er sieht, am Strand die dort liegenden Fischerboote, die Hebebrücke, die Felder. Und dann malt er all dies in St. Remy aus dem Gedächtnis heraus. Darunter viele seiner besten Bilder. Vincent malt Bild um Bild, wie besessen, es werden so viele Bilder, wie nie zuvor. Diesmal will er die Welt mit seiner Leinwand
missionieren. Doch es wird und wird nicht besser mit Vincents Gesundheit.

Auf eigenen Wunsch wird es nach einem Jahr entlassen. Jetzt will Vincent in die Nähe seines Bruders ins dörfliche Auvers ziehen. Das liegt bei Paris und viele bekannte Künstler haben dort schon gewohnt. Dort gibt es auch einen guten Arzt, Kunstfreund und Amateurmaler: Paul Gachet. Dieser kümmert sich um Vincent und bekommt dafür von diesem ein Portrait gemalt. Aber Vincent fühlt, daß er sich und zugleich auch die Visionen seiner Seele aufgebraucht hat. Mitte Juli 1890 schreibt er an seinen Theo, er fühle sich ausgebrannt, habe keine Ideen mehr für neue Bilder: „Ich empfinde dies als mein Schicksal, das ich annehme und das sich nicht mehr ändern wird“. Noch bevor Theo Zeit für ihn hat und ihn besuchen kommt, findet Vincent am 27. Juli 1890 in einem Stall zufällig ein Gewehr, geht damit auf das Feld des Bauern und schiesst sich damit in die Brust. Dr.
Gachet erkennt, dass der Schuß ihn nicht getötet hat, Vincent ihn aber, aufgrund der Verletzungen, die entstanden sind, nicht überleben wird können. Am 29. Juli ist Vincent Van Gogh dann tot.

Theo Van Gogh kann dieses Ende seiens Bruders nie verwinden. Hat er sich zu wenig um ihn gekümmert? War dessen Selbstmord seine Schuld? Ein halbes Jahr nach Vincent stirbt auch er an gebrochene Herzen. Vincent und Theo liegen vereint auf der Friedhof von Auvers-sur-Oise. Theos Witwe Johanna hat alle Bilder, die Vincent jemals an ihren Mann geschickt hatte, aufgehoben und lagerte sie auf dem Dachboden. So sind auch Jahrzehnte später, als Vincent Van Goghs Werk langsam Berühmtheit erlangt, fast alle seiner Werke in Familienbesitz. Insgesamt rund 250 Bilder. Von Vincent gibt es nur noch etwa zwanzig weitere Bilder, die er zumeist Bauern zum Tausch gegen Essen gegeben hatte.

Johanna Van Gogh initiiert Ausstellungen und verkauft einige Bilder an Sammler, die inzwischen gutes Geld hierfür zahlen. In den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ordnet sie die verbliebenen Bilder nochmals und katalogisiert sie: es sind noch etwa 200 Stück verblieben. Nach ihrem Tod erbt ihr Sohn Vincent (von Theo benannt nach seinem Bruder - zu Ehren seiner Geburt hatte ihm der Onkel die
Mandelblüte gemalt) die Bilder des Onkels. Vincents Neffe Vincent bittet den niederländischen Staat darum, ein Museum für die Bilder seines Onkels zu finden. Dann könne er sich vorstellen alle verbliebenen rund 200 Bilder und den gesamten Schriftverkehr in eine Stiftung zu überführen und diese würde dann alles dem Staat als Dauerleihgabe zur Verfügung stellen.

In den 1950er-Jahren wird die Idee aufgegriffen, 1962 von Vincents Neffen die Stiftung gegründet. Ein Jahr später gewinnt man den Stararchitekten Gerrit Rietveld für die Konstruktion eines ganzen Museums speziell nur für die Bilder eines einzigen Mannes. Vor dreissig Jahren wird das Museum eröffnet. Von da an können alle Menschen in Ruhe die Originale von Vincent Van Gogh ansehen. So wie ich an diesem Tag, den ich deshalb niemals wieder vergessen werde.

Erst am späten Nachmittag, kurz bevor es seine Pforten schliesst, verlasse ich
das Museume. Nicht für immer, denn irgendwann zieht es jeden in dieses Museum zurück. Nur für den Augenblick.

Über Uttrecht fahre ich nach Arnheim und dann zur Raststätte Hünxe, die ich dieses Mal von der anderen Seite kennenlerne. Als es schon dunkel ist, schreibe ich diese Zeilen und danach das Ganze noch einmal in einem Brief an meine Nichte Ina. Es fängt erneut an stark zu regnen.

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